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06.09.2013 - 20.12.2013

Gran Horizonte

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Lassen sich Städte planen? Und was, wenn die Planungsorgane versagen oder nicht existent sind? Beispiele dysfunktionaler Städte hat die Moderne viele hervorgebracht. Es sind die Bewohner selber, welche diese Städte durch nachträgliche und sukzessive Aneignung von unten bewohn- und lebbar machen: durch Experiment und Umnutzung bestehender Strukturen. Selbstorganisation als schöpferische Kraft und Testfeld für innovative, praxisnahe Lösungen: für U-TT – Urban-Think Tank liegt darin ein reichhaltiges Forschungsfeld. Statt Utopien sind es die konkreten Defizite von Städten und die Bedürfnisse ihrer Bewohner, die bei U-TT am Anfang einer möglichen architektonischen Intervention stehen. Das Kollektiv aus Architekten, Sozialwissenschaftlern und Künstlern untersucht und vergleicht informelle Siedlungen vielerorts auf der Welt. Ohne sie zu romantisieren, begreift U-TT diese marginalisierten sozialen Gemeinschaften nicht in erster Linie als Opfer von Planungsfehlern und sozialer Benachteiligung, sondern als aktive Gestalterinnen und Stadtentwicklerinnen auf der lokalen Mikroebene.

Die Ausstellung GRAN HORIZONTE in der COALMINE bietet ebendieser aussergewöhnlichen, extrem flexiblen und improvisatorischen dokumentarischen, wissenschaftlichen und architektonischen Praxis Raum. Als experimenteller Ausstellungsort für Dokumentar- und Kunstfotografie rückt die COALMINE erstmals die reichhaltige Bildproduktion von U-TT in den Vordergrund. Inwiefern kann foto- und videografisches Material Aufschluss über verborgene Funktions- und Organisationsprinzipien informeller Gemeinschaften bieten? Konkret: Kann Fotografie als Kommunikationsinstrument zwischen Slumbewohnern und privaten Unternehmen, zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, zwischen selbstorganisierten Gemeinschaften an unterschiedlichen Orten dienen? Mit diesen Fragestellungen lotet die COALMINE zusammen mit U-TT einmal mehr die Leistungsgrenzen und mannigfachen Erscheinungsformen des Mediums Fotografie aus. Sie liefert damit einen Beitrag zum Winterthurer Kulturherbst, der im Zeichen von Kunst und Wissenschaft steht.

Die Ausstellung GRAN HORIZONTE verzweigt sich in zwei begehbare Bildarchitekturen: Über den ersten Ausstellungsteil TORRE DAVID gelangen die Besucher in einen verästelten sozialen Mikrokosmos. Der Torre David ist einer der höchsten Wolkenkratzer Südamerikas, mitten im Geschäftsviertel von Caracas. Doch als einziges hat das 45-stöckige Gebäude keinen Aufzug. Es wurde 1994 im Rohbau stehen gelassen, als der Bauentwickler starb und das Land in eine Wirtschaftskrise glitt. Während Jahren stand das Gebäude leer, bis es 2007 von Bewohnern der umliegenden Slums in Besitz genommen wurde. 750 Familien nennen den Torre David seither ihre Heimat. Als vertikaler Slum vereint der Wolkenkratzer eine Reihe von Eigenheiten, die besondere Anforderungen an seine Bewohner stellen. Transport, Abwasser und Sicherheit verlangen nach Lösungen. Mit Fotografien und Video-Dokumenten will die Ausstellung zeigen, wie ohne planerische Top-Down-Prozesse praxisnahe Lösungen ersonnen werden, die auch in anderen Kontexten erwägenswert sind. Als narrativer Strang führt ein Comic (gezeichnet von Andre Kitagawa, Brasilien) chronologisch durch die Besetzung des Hochhauses. Von jedem Comicbild zweigen nach oben und unten Fotografien von U-TT sowie von Iwan Baan ab, die als assoziative Bildwolken in den Turm hineinführen. In einem Videoraum geben Bewohner in kurzen Sequenzen Auskunft über ihren Lebensalltag an diesem besonderen Ort. Wie durch ein multimediales Panoptikum gibt der Turm so bruchstückhaft seine Geheimnisse preis.

Eine App erlaubt es den Besuchern, auf spielerische Weise weitere multimediale Inhalte und Informationen abzurufen. Der zweite Ausstellungsteil GRAN HORIZONTE führt über das ikonische Bauwerk des Torre David hinaus. Er besteht aus einer von Alfredo Brillembourg, Hubert Klumpner, Daniel Schwartz, Martin Andersson und Markus Kneer / U-TT & ETH Zürich (Konzeption, Kamera und Schnitt) entwickelten Drei-Kanal-Videoprojektion, welche den gesamten Raum für Kunstfotografie einnimmt. Die Besucher tauchen ein in einen Reigen von wiederkehrenden Strukturen und Mikrogeschichten aus aller Welt, deren Gemeinsamkeit in der erfinderischen Lebensbewältigung ihrer Protagonisten liegt. Dieser Ausstellungsteil ist keine Behauptung, sondern ein poetisches Fragezeichnen, das zum Nachdenken anregen soll. Wie können wir lebenswerte Städte auch unter prekären Bedingungen schaffen? Wie sind Top-Down und Bottom-Up-Prozesse derart zu lenken, dass sie Lebensraum für Viele statt Exklusivität für Wenige schaffen? Wie können Bilder als Instrument der Erkenntnis und Kommunikation über kulturelle und schichtspezifische Grenzen hinweg nutzbar gemacht werden? Die Ausstellung wird kuratiert von Alexandra Blättler und Sascha Renner.

Künstlerische Realisierung: Daniel Schwartz, Martin Andersson, Markus Kneer / U-TT, Chair Brillembourg & Klumpner, ETH Zürich. Über U-TT – Urban-Think Tank U-TT agiert als interdisziplinäres Kollektiv, bestehend aus Architekten, Sozialwissenschaftlern, Designern, Fotografen und Künstlern. Gegründet in Caracas, Venezuela, ist U-TT seit 2010 in Zürich-Oerlikon beheimatet. Geleitet wird es von Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner, Professoren für Architektur und Städtebau an der ETH Zürich, mit dem Ziel, innovative und gleichzeitig praxistaugliche Lösungen durch die Zusammenarbeit von Architekten, Bauingenieuren, Umweltplanern, Landschaftsarchitekten und Künstlern zu entwickeln. Gemeinsam mit ihrem Forschungs- und Design-Team verbrachten sie 18 Monate damit, die physische und soziale Organisationsstruktur des Torre David zu studieren. Wo manch einer nur ein gescheitertes Bauprojekt sieht, haben sie ein Labor zur Erforschung des Informellen gefunden. U-TT richtet mit dieser Ausstellung einen Aufruf an alle Architekten, in den informellen Ansiedlungen der Welt ein Potential für Innovation zu sehen mit dem Ziel, Gestaltung im Dienste einer gerechteren und nachhaltigeren Zukunft einzusetzen. U-TT arbeitet im globalen Kontext des Informellen und fokussiert seinen Arbeitsschwerpunkt auf die Entwicklung neuer Strategien, um Städte in Orte zu transformieren, die gleichzeitig produktiver und integrativer sind, sowie auf die Ausbildung einer neuen Generation von Architekten, die Städte im 21. Jahrhundert positiv verändern können. Für ihre Präsentation erhielt U-TT auf der Biennale Venedig 2012 den Goldenen Löwen. In der COALMINE wird das Projekt nun in weiterentwickelter, veränderter und ergänzter Form gezeigt.