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10.04.2015 - 03.07.2015

IN BETWEEN. Reise ins Landesinnere

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Mit Florian Bärtschiger, Mario Heller, Patrick Hürlimann, Matthias Käser, Peter Käser, Eleni Kougionis, Franziska Rothenbühler, Matthias Taugwalder

Gerne laden wir Sie zur Doppelvernissage der Fotoausstellungen am Donnerstag, 9. April 2015 ab 18.30 Uhr in die COALMINE ein. Mit IN BETWEEN. REISE INS LANDESINNERE wirft das COALMINE Forum für Dokumentarfotografie ein Schlaglicht auf die aktuelle Pressefotografie in und aus der Schweiz. Acht aufstrebende Fotojournalisten präsentieren Arbeiten, die an der Oberflächenpolitur des Landes kratzen: indem sie unterschwellige Verwerfungen aufspüren, die gemeinschaftsbildenden und -zerstörenden Kräfte offenbaren oder das Verhältnis des Einzelnen zur Mehrheitsgesellschaft thematisieren. Die Arbeiten sind mehrheitlich im Lauf des Studiengangs Redaktionelle Fotografie an der Schweizer Journalistenschule MAZ entstanden. Der Studiengang nimmt seit vielen Jahren eine führende Rolle in der Ausbildung von Bildberichterstattern ein. Als zwei Orte, die sich gleichermassen der Förderung einer qualitätsbewussten erzählerischen Fotografie verschrieben haben, gewähren die COALMINE und das MAZ mit dieser Ausstellung in einem erstmaligen Schulterschluss Einblick in die junge fotojournalistische Produktion.

Medienbilder treten uns in festen Gefügen entgegen: eingebettet in Texte und Layouts, oft als Einzelbild, mit dem Absender einer Zeitung, eines Magazins oder eines Online-Titels. Anders im Ausstellungsraum. Die Absolventinnen und Absolventen des MAZ-Studiengangs 2014-2015 treten in der COALMINE als eigenständige Autoren in Erscheinung, die ungefiltert durch die Agenda der Medien individuelle Blickpunkte auf die sie umgebende Wirklichkeit in Serien von Bildern formulieren. An die Stelle von (Kon-)Text treten räumliche Inszenierung und Dramaturgie. Während in den Medien das Knappheitsgebot gilt und umfassende Bildreportagen mehrheitlich der Vergangenheit angehören, bietet die Ausstellung Gelegenheit, die fotojournalistischen Arbeiten auf ihre inhaltliche Tiefe und ästhetische Ausdruckskraft zu prüfen. Kommen diese Qualitäten im hektischen Berufsalltag und aufgrund ökonomischer Verwertungszwänge oft zu kurz, so lädt das Medium Ausstellung zu einer eingehenden Betrachtung und Reflexion über die Erzählkraft von Bildern ein. Die Themen und Konzepte für ihre bildjournalistischen Arbeiten wurden von den Teilnehmenden frei gewählt und im letzten Jahr umgesetzt. Sie sind ein Spiegel davon, was junge Fotografen heute bewegt, wie es um ihre Befindlichkeit und ihr berufliches Selbstverständnis steht. Dennoch fügen sich alle Arbeiten zu einer inhaltlichen Kette: der Frage, was uns als Gemeinschaft zusammenhält. Was lapidar klingt, gewinnt mit jeder einzelnen Arbeit in der Ausstellung eine fassettenreiche Anschaulichkeit: Befragt wird ein Land, seine gesellschaftliche Verfassung und sein Gemeinschaftssinn. Untersucht werden die zentrifugalen Kräfte, die es auseinandertreiben, und die integrativen, die Ungleiches zusammenführen. Die Bilder erzählen vom Ort eines jeden Einzelnen im Kollektiv, selbstgewählt oder aufgezwungen; von der Bereitschaft eines Landes, sich zu wandeln, Fremdes aufzunehmen oder der Neigung, es auszuschliessen. Oft sind es Orte, an denen das politisch-mentale Gefüge einer Überprüfung unterzogen wird.

FLORIAN BÄRTSCHIGER (*1986 in Biel) begibt sich dafür in den Jura, den jüngsten Kanton der Schweiz, der 1978 nach vierzigjährigem Kampf in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Doch ist die Jura-Frage bis heute nicht abschliessend geklärt, und Spuren des Kampfs sind allgegenwärtig: Der Bischofsstab des jurassischen Wappens prangt weit sichtbar auf einer Anhöhe. In verblichenen Lettern erinnert die Aufschrift LIBRE auf einer Hauswand an die unversöhnlichen Fronten. Die Früchte der Freiheit veranschaulichen neue Infrastrukturprojekte, in deren Genuss die vernachlässigte Region seither kommt: Eine Nationalstrasse frisst sich quer durch Täler und Berge; Lüftungsschächte ragen wie die Rückenplatten eines Sauriers aus der sanften Hügellandschaft. Im Gegensatz dazu zeugen verwahrloste Häuser, ein stillgelegter Bahnhof und geschlossene Beizen von Lähmung, Abwanderung und Stagnation. Florian Bärtschiger offenbart in einer nachdenklichen, teils skurrilen Spurensuche die Widersprüchlichkeit einer Region zwischen selbstgewählter Isolation und Öffnung, Strukturschwäche und Aussteigerromantik, Abhängigkeit und Selbstbestimmung.

Die Schweiz aus ganz anderem Blickwinkel, dem des Neuankömmlings und Aussenseiters, zeigt die Reportage von MARIO HELLER (*1991 in Muri). Er begleitet Solomon, einen jungen Mann aus Eritrea, während der Zeit seines Asylverfahrens. In der Asylunterkunft «Restaurant Tell» in Alpnach Dorf untergebracht, ist sein Alltag geprägt von Einsamkeit und Langeweile, Hoffnung und Resignation. Das Mobiltelefon ist der ständige Begleiter, bietet Unterhaltung und ein Fenster zur Welt, zu entfernten Freunden und Familienangehörigen. Die jungen Männer in der Asylunterkunft, zu Untätigkeit gezwungen und im Ungewissen gelassen, beschäftigen sich mit sich selber. Intime Szenen zeigen Solomon bei der Haarwäsche. Ein Ausflug ins Verkehrshaus bringt eine seltene und willkommene Abwechslung. Der rustikale Charme der Asylunterkunft, die niederen Decken, die gekachelte Küche mit ihrem Holzimitat, die zum Trocknen aufgehängte Wäsche in der dörflichen Landschaft bilden einen befremdlichen Kontrast zu den Wünschen und Erwartungen der Männer. Mario Heller gelingt es, das langatmige Warten in einer gezielt stilisierten Bildsprache einzufangen und damit einen Beitrag zur Reflexion über die Schweizer Asylpraxis zu leisten.

Nicht minder brisant ist die Arbeit von PATRICK HÜRLIMANN (*1975 in Baar) über die Stadt Zug. Dank einer immer tiefer werdenden Fiskalbelastung ist der einst arme Innerschweizer Kanton zu einer Oase für Vermögende und multinationale Unternehmen geworden. Doch während jene herausragende wirtschaftliche Bedingungen vorfinden, werden die negativen Folgen dieser Politik spürbar: unbezahlbare Wohn- und Lebenskosten, Verdrängung des Mittelstands, Zubetonierung von Grünflächen, Identitätsverlust. Die Steuerdumpingpolitik des Kantons wirkt sich sichtbar auf das Stadt- und Landschaftsbild aus. Reich, sauber, gesichtslos – stimmt dieses Bild? Patrick Hürlimann sucht dafür nach Indizien und begibt sich als Flaneur in die Strassen von Zug. Was vordergründig wie ein Hochglanzprospekt für Standortmarketing aussieht, zeigt jedoch irritierende und augenzwinkernde Brüche. Warum scheint es, als herrsche hier Sonntagsstimmung auch an Wochentagen? Wo sind all die Arbeitenden, die Zug zu einer führenden Rohstoffhandelsplattform machen? Weder tendenziös noch denunziatorisch, aber mit einem unbequemen und fragenden Blick liefert Patrick Hürlimann ein ungeschöntes Zeitdokument.

Eine dichte Beschreibung im ethnologischen Sinn legt MATTHIAS KÄSER (*1988 in Sumiswald) über seine Berner Heimatgemeinde Sumiswald vor. Gewerbetreibende in ihren familiengeführten Betrieben, Alpabzüge, Volksfeste und leere nächtliche Strassen prägen das Bild dieser scheinbar heilen dörflichen Welt mit ihren 5000 Einwohnern. Und immer wieder Vereine, mit 87 in überdurchschnittlicher Zahl, von der Hornussergesellschaft über die Linedance-Gruppe bis hin zum Männerkochclub, den Dead Riders und dem Turnverein. Die gemeinschaftsstiftenden Kräfte treten hier in hoher Potenz zutage, Heimat und Zugehörigkeit werden tagtäglich neu erschaffen. Die im Kollektiv ausgeübten freizeitlichen Aktivitäten verfestigen sich in den Bildern von Matthias Käser zu visuellen Monumenten des Gemeinsinns: Turner, Tänzer, Sänger und Schützen frönen in geordneter Formation ihrem Hobby. In einer Zeit zunehmender gesellschaftlicher Fragmentierung erzeugen seine Bilder ein Gefühl von molliger Wärme, Faszination und Geborgenheit, aber auch von Enge und Vereinnahmung – einander widerstrebende Empfindungen, die sich beim Blick auf dieses konstituierende Merkmal schweizerischer Kultur unwillkürlich einstellen.

Ebenfalls mit Gemeinschaften, jedoch religiösen, befasst sich PETER KÄSER (*1955 in Zug) in seinem Langzeitprojekt über die Integration von Muslimen in die Schweizer Mehrheitsgesellschaft. In seiner Bildauswahl lenkt er den Blick auf Versammlungsorte für religiöse Zusammenkünfte und für die Gemeinschaftspflege, von denen es in der Schweiz rund 400 gibt. Obwohl offen für alle Muslime, sind sie sprachlich und kulturell auf ein Herkunftsland ausgerichtet. In aller Regel unscheinbar, befinden sie sich in umgenutzten Wohn- oder Gewerberäumen. Mit der Annahme der Minarett-Initiative hat sich das Schweizer Volk 2009 dafür ausgesprochen, dass diese Orte auch weiterhin ohne äusserlich erkennbare Zeichen bleiben sollen. Peter Käser begegnet diesem Umstand mit einer typologischen Serie von Aussenaufnahmen verschiedener Moscheen, denen er Innenaufnahmen ihrer Gebetsräume gegenüberstellt. Je nach der Finanzstärke der Trägervereine sind die Gebetsräume in üppiger Ornamentalität ausgestattet oder auch sehr schlicht gehalten. Der Kontrast ist pointiert auf die Spitze getrieben und politisch bedeutsam: Soll die muslimische Minderheit aus dem Schattendasein herauszutreten, oder ziehen wir eine im Verborgenen praktizierte Religionsausübung vor?

Welche Freiräume sich jenseits etablierter, konventioneller Lebensstile bieten, untersucht ELENI KOUGIONIS (*1988 in Laufenburg) in ihrer Dokumentation über alternative Wohnformen in der Schweiz. Alternativ versteht sie dabei nicht ausschliesslich im ökologischen Sinn, sondern im Spannungsfeld von politischer Selbstbestimmung und individueller Selbstverwirklichung. Ihre Protagonisten haben sich ihr persönliches, selbst erdachtes Paradies geschaffen. Das Spektrum abweichender Wohnformen reicht vom bourgeois ausgestatteten Hausboot über den Loft im Bergwerksilo und die pink gestylte Kreativwerkstatt bis hin zum Wagenpark, dem Ökodorf, dem Waldhaus und der autonomen Wohngemeinschaft. Das Auge schweift geflissentlich umher, verweilt allenthalben, tastet die Räume auf ihre zahllosen Besonderheiten ab und hält sich an der Überfülle der Eindrücke auf. Mit beigestellten, sorgfältig inszenierten Porträts, welche die Geschlossenheit von Gemälden aufweisen, lüftet Eleni Kougionis schliesslich das Geheimnis um die Schöpfer und Bewohner dieser Wohnstätten. Ihre Arbeit präsentiert die Form gewordenen Lebensentwürfe von Individualisten, scheinbar gelassen in sich selbst und ihrem Universum ruhend.

Keine innere Ruhe finden hingegen viele «Kinder der Landstrasse», Menschen, die vom gleichnamigen Hilfswerk der Pro Juventute zwischen 1926 und 1972 ihren Eltern entrissen wurden. Gezielt wurden jenische Familien und andere Fahrende auf diese Weise entzweit, um sie zur Sesshaftigkeit umzuerziehen. Man rechnet mit 600 bis 2000 Fällen. Diesen Fällen ein Gesicht zu geben, bezweckt FRANZISKA ROTHENBÜHLER (*1983, Sumiswald) mit ihrer Porträtserie, für die sie Betroffene, Kinder von Betroffenen, Experten und Personen in Täterinstitutionen aufsuchte. Die Bilder zeigen in sich versunkene, scheinbar abwesende Personen, den Blick abgewandt, die Augen geschlossen. Persönliche handschriftliche Kommentare begleiten die Porträts. Entstanden sind fragile Dokumente scheinbar unverarbeiteter Traumata. Auf ihrer Recherche besuchte Franziska Rothenbühler auch Heime, Psychiatrische Anstalten und Klosterschulen, in denen die Kinder platziert wurden. Einige dieser Einrichtungen offenbaren noch heute die Spuren ihrer früheren Zweckbestimmung. Mit natürlichem Licht, zurückhaltend und stimmungsvoll fotografiert, evozieren die Bilder auf oft beklemmende Weise das Geschehene. Während die Printmedien der klassischen Fotoreportage nur noch wenig Raum bieten, steht ihr eine mögliche Renaissance in den neuen Medien bevor.

Immer öfter stossen Konsumenten von Online-Titeln heute auf Multimedia-Reportagen, Webdokus und andere Formate, die stehende und bewegte Bilder, Ton und Text in webgerechter und interaktiver Form zusammenführen. Einen solchen Blick in die Zukunft der Fotografie wirft MATTHIAS TAUGWALDER (*1981 in Zermatt). Spezialisiert auf interaktive hochauflösende Medieninhalte, erarbeitet er für die Ausstellung einen virtuelle Querschnitt durch die Schweiz in 360 Grad: Naturpanoramen vom Matterhorn-Gipfel und dem Aletschgletscher, aber auch Events wie Schwingfeste, Ringkuhkampf, Fasnacht oder Tour de Suisse warten mit neuartigen Seherlebnissen auf. Beruhend auf einer Vielzahl miteinander verknüpfter Fotografien, erlebt man beispielsweise den Aufstieg auf das Matterhorn auf dem Rücken eines Bergsteigers mittels einer sensorbestückten Videobrille, die einen Rundum-Ausblick bietet und auf Kopfbewegungen reagiert. Matthias Taugwalder rückt die Fotografie nahe an den Punkt vollständiger Immersion und verleiht damit Jean Baudrillards Simulacrum-Theorie eine faszinierende Anschaulichkeit.

Die Ausstellung wird von Sascha Renner kuratiert. Studiengangleitung Redaktionelle Fotografie am MAZ: Reto Camenisch. Begleitung der Langzeitprojekte am MAZ: Meinrad Schade.