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28.08.2015 - 10.10.2015

Aufzeichnungen. Leben im Ghetto und Begegnungen in den Jahrzehnten danach

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Eine Sommerausstellung in der COALMINE, in Kooperation mit der Fotostiftung Schweiz.

«In Krakau war ich zum letzten Mal 1938. Ich stand draussen im Schneeregen, und alte Legenden und Geschichten rieselten auf mich herab. Vor meiner Reise nach Krakau hatte ich einiges über das Leben der Juden im Mittelalter gelesen. Was hatte sich verändert in einem halben Jahrtausend?… Ich stand auf dem Platz, ein alter Gelehrter ging langsam vorbei, wie ein biblischer Patriarch sah er aus. Er schien müde. Er tat mir leid, und ich fragte ihn, wie lange er schon unterwegs sei. ‹Seit alles begann›, war die Antwort. Ich fragte nicht, wie er das meinte.»

Roman Vishniac Roman Vishniac appelliert an unser Mitgefühl. Zunächst zog er im Auftrag eines jüdischen Hilfsvereins los und dokumentierte den jüdischen Alltag in verschiedenen osteuropäischen Städten zwischen den Weltkriegen. Dieser Aufgabe hat er sich mit unermüdlicher Energie, einem differenzierten Blick und einer vorbehaltlosen Empathie verschrieben. Er schuf ein einzigartiges historisches Konvolut von Bildern, aus denen uns immer wieder dunkle Augen entgegenfunkeln – von greisenhaften Kindern, von Frauen in russgeschwärzten Küchen, von Familien in überfüllten Kellerwohnungen oder von vorbeihastenden Rabbinern. Doch es gibt auch indirekte Begegnungen. Einige verschwinden beinahe zwischen Möbeln, Mauern oder unter den Lasten, die sie mangels Pferd und Karren selbst durch die Strassen schleppen. Es sind prekäre Existenzen und Gemeinschaften, die Vishniac ins Bild gebannt hatte. Und zwar mit einer klaren Vision: Die berührenden Nahaufnahmen sollten die Weltöffentlichkeit aufrütteln und die sich anbahnende Katastrophe verhindern. Rückblickend stellen wir fest: Das Rad der Geschichte konnte Vishniac nicht aufhalten, doch sein Plädoyer für Empathie und Menschlichkeit hat bis heute nichts an Aktualität verloren. Wer vor seinen ikonischen Aufnahmen steht und seine knappen erläuternden Kommentare dazu liest, wird diese Bilder nicht mehr vergessen.

Roman Vishniac wurde am 19.8.1897 in der Nähe von St. Petersburg geboren und wuchs in Moskau als Sohn einer wohlhabenden Kaufmannsfamile auf. Als Kind erhielt er ein Mikroskop und eine Kamera geschenkt – zwei Medien, die er sofort kombinierte und die ihn zeitlebens begleiteten. Nach dem ersten Weltkrieg zog die Familie nach Berlin, so auch das junge Paar Roman und Luta Vishniac. Von hier aus beobachtete er den in den benachbarten Ostländern erstarkende Antisemitismus, bis er auf Bitte des Berliners Büros des ‹Hilfsvereins der deutschen Juden› 1935 erstmals nach Osteuropa reiste. Die in den kommenden vier Jahren in Polen, der Karpato-Ukraine, der Slowakei und Ungarn teils mit verborgener Kamera geschossenen Aufnahmen sollten dazu dienen, Mittel zur Unterstützung der verarmten Gemeinden aufzubringen. Die Porträts spiegeln Vishniacs eigenes Erleben, das er nach einem Besuch in Bratislava (damals Pressburg) 1938 wie folgt schildert: «Geschichten und Legenden stiegen aus vergangenen schrecklichen Zeiten auf: Progrome, Brandstiftungen, Ausweisungen – Massaker, denen ganze Judengemeinden zum Opfer fielen. Mein Begleiter erzählte, und die Tragödien schienen an den Häusern und Plätzen zu haften.» Die Reihe dieser Aufnahmen bricht mit Vishniacs Internierung in Frankreich ab, bevor er 1941 in die USA emigrieren konnte. In den folgenden Jahren verschrieb er sich der Veröffentlichung der Bilder, in der Hoffnung, damit den Krieg verhindern zu können. Parallel schuf er die heute weltweit bekannten Porträts von Albert Einstein, Marc Chagall sowie mikrofotografische Aufnahmen für die Zeitschrift Life.

Am 22.1.1990 ist Visniac 92-jährig in New York gestorben Sehr früh – kurz nach Vishniacs erster umfassenden Einzelausstellung im International Fund for Concerned Photography in New York 1971 – wurde der vormalige Leiter der Fotostiftung Schweiz, Walter Binder, auf ihn aufmerksam. Er realisierte mehrere Ausstellungen, so 1974 im Stadthaus Zürich und 1982 im Kunsthaus Zürich. Dank seinen freundschaftlichen Verbindungen kamen in der Folge bedeutende Werkgruppen von Roman Vishniac in die Fotostiftung – über Schenkungen von Mara Vishniac Kohn und Gerda Meyerhof sowie über den Nachlass des Filmemachers Erwin Leiser. Damit verfügt die Stiftung heute über eine der grössten Vishniac-Sammlungen ausserhalb von Amerika. Eine repräsentative Werkauswahl wird nun in der COALMINE gezeigt.

Die COALMINE dankt der Fotostiftung für die fachlich kompetente und generöse Kooperation, welche diese denkwürdige Ausstellung erst möglich werden liess. Die Ausstellung wird von Katri Burri kuratiert und in Kooperation mit der Fotostiftung Schweiz realisiert. Sämtliche Werke stammen aus der Sammlung der Fotostiftung Schweiz. Das Bildmaterial darf ausschliesslich im Zusammenhang mit der Berichterstattung zur Ausstellung verwendet werden. © Mara Vishniac Kohn, courtesy International Center of Photography.