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04.11.2016 - 23.12.2016

Outland

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Jean Revillard (*1967 in Genf) ist eine der herausragenden Stimmen der dokumentarischen Fotografie aus der Schweiz. Seine brillant gestalteten, prophetischen Reportagen über illegale Einwanderung brachten ihm zwei World Press Photo Awards ein. Jean Revillards Aufmerksamkeit gilt Entwurzelten im weitesten Sinn: Strahlenkranken, Migranten oder Prostituierten, die durch technologische oder politische Umstände buchstäblich in die Wildnis gedrängt werden. Mit der Gründung der Agentur Rezo (2001) hat Jean Revillard der Autorenfotografie ein vielbeachtetes internationales Sprachrohr geschaffen. Die COALMINE widmet dem Westschweizer Protagonisten der engagierten Fotografie eine erste Übersichtsausstellung mit Werkreihen aus den letzten zehn Jahren.

In Jean Revillards Werkserien begegnen wir Flüchtlingen und Prostituierten, Friedhofbewohnern und Strahlenkranken: Allesamt an den Rand der Zivilisation gedrängt, fristen sie in Wäldern und Höhlen, untergebracht in notdürftigen Behausungen, eine prekäre, an primitive Urzustände erinnernde Existenz. Im emotionalen Spannungsfeld von Naturromantik und Apokalypse angesiedelt, fordern Jean Revillards Arbeiten zum Nachdenken über den schmalen Grat zwischen Natur und Kultur auf. «Ich habe meine Kindheit auf dem Land verbracht; fernab von allem, habe Abenteuerromane gelesen und habe im Wald herumgetobt», schildert Jean Revillard seine Erinnerungen an den Ort seines Heranwachsens. Jahrzehnte später und ein halbes Fotografenleben reicher, kehrt er 2011 mit der Kamera an den Ort seiner Kindheit zurück – und realisiert mit einem Mal: «Ich verstand, woher meine Faszination für den Wald, das Brachland und die dort hausenden Menschen kam.» Die Wildnis fernab der Zivilisation, das Land ausserhalb – das «Outland» – hatte sein Auge ein Leben lang unmerklich gelenkt. Es ist die forcierte Rückkehr der Menschen in die Wildnis, die Jean Revillard durch seine Arbeit zu erkunden versucht.

Diesem Leitmotiv folgt auch die Werkauswahl der Ausstellung «Outland». Sie vereint die grossen Reportagen des Fotografen. Darunter die mit einem Swiss Photo Award 2015 ausgezeichnete Arbeit «Wellen» (2014). Darin führt der Fotograf das Los von Technologieflüchtlingen vor Augen. Um Mobilfunkantennen und Wlan-Netzen zu entkommen, ziehen sie sich ans hinterste Ende einer Schlucht in den französischen Alpen zurück, wo sie in der Wildnis campieren, in Wohnwagen, Zelten und Höhlen. Bei ihrem Grad an Hypersensibilität kann die Protagonistin Emma diesen Ort nicht einmal verlassen, um Besorgungen zu erledigen. Allein und ohne Freunde und Familie, lebt Emma in der permanenten Angst, weiterziehen zu müssen – in der Sekunde, in der sie erneut von einer Welle des Fortschritts eingeholt wird. Am äussersten Rand der Zivilisation lebt auch «Sarah» (2010/11): Der Fotograf erwarb sich über mehrere Monate das Vertrauen der afrikanischen Prostituierten, die in einem Waldstück entlang einer Landstrasse im Nordosten von Turin ihren Körper anbietet. Der Wald, die kaputte Matratze, die Brücke: Sie werden zu Metaphern für den schwierigen Weg der Migranten nach Europa.
Angesichts bedrohter, marginalisierter Existenzen erwächst aus den Bildern ein moralischer Imperativ, der sich im Betrachter Gehör verschafft. Obwohl die Fotografien nüchtern das Gesehene registrieren, machen sie deutlich: Der Fotograf identifiziert sich mit seinen Protagonisten, seine Bilder sind Zeugnisse gelebter Empathie. Immer wieder wendet sich Jean Revillard der illegalen Immigration, den Flüchtlingsströmen von Süd nach Nord und den menschenunwürdigen Bedingungen der Reisenden zu, noch bevor das Thema die Agenden der Medien dominiert.

Die «Dschungel» (2005-2010) sind Gebiete in den Wäldern und im Brachland rund im Calais, nahe der Parkplätze, wo die Lastwagen Richtung England auf die Zollkontrolle warten. In behelfsmässigen Hütten verkriechen sich die Migranten, genährt von der Hoffnung auf ein besseres Leben. Mit einer mobilen Blitzanlage ausgerüstet, schält Jean Revillard ihre Behausungen aus der buschigen Vegetation und verwandelt sie in prekäre Mahnmale für die Abwege der europäischen Migrationspolitik.

Griechenland beherbergt eine der grössten Konzentrationen an Flüchtlingen in Europa. Die meisten von ihnen versuchten bis 2011 die Grenze zu Italien zu überqueren, indem sie in der Hafenstadt Patras auf die Lastwagen kletterten, die die Fähre nahmen. Im Jahr 2009 zerstörte die griechische Verwaltung während der Wahlkampagne das Camp der Einwanderer. 4000 Menschen wurden obdachlos und sahen sich genötigt, sich in die Olivenhaine und einen verlassenen Bahnhof zu flüchten («Letzter Halt Patras», 2009-2013). Doch auch die Griechen selbst sind auf der Flucht vor der Krise. Der Fotograf freundet sich mit einem von ihnen an. Dimitri hat sich vor der Gewalt der rechtsextremen Milizen auf den Strassen Athens hoch auf den Hügel Filopappou geflüchtet, an einen Ort, der die Wiege des antiken Griechenlands war, direkt gegenüber der Akropolis («Der Hügel», 2013). Wie die Alten in Athen leben auch die Bewohner des Friedhofs Del Norte in Manila ausserhalb von Raum und Zeit («Del Norte», 2015). Zweitausend sehr lebendige Menschen besiedeln diese letzte Ruhestätte, die ihre eigenen Geschäfte hervorgebracht hat: Kunstateliers für Bestattungsbedarf, in denen Vasen und kleine Skulpturen hergestellt und vor Ort gepflückte Blumensträusse verkauft werden. Als letzten und lieb gewonnenen Ort der Zuflucht verbringen die Friedhofsbewohner ihr Leben auf Tuchfühlung mit dem Tod. Die Ausstellung wird kuratiert von Sascha Renner.

Veranstaltung
Öffentliche Führung mit Jean Revillard: Dienstag, 15. November 2016, 18.30 Uhr