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02.05.2022 - 15.05.2022

Aykan Safoğlu: Ebbe/Flut

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Link zur Veranstaltung am Samstag, 14. Mai 2022, 18 Uhr: HIER

Ebbe und Flut sind zwei Bewegungen, die sich bedingen. Wenn das Wasser des Meeres sich zurückzieht, kommt der sandige Untergrund in Form von Wellenbewegungen zutage. Diese werden erst mit dem ansteigenden Wasser wieder verwischt. Das Motiv der Bewegung und der ihr eingeschriebenen Zeitlichkeit ist inhaltlich wie auch formal ein zentraler Aspekt in Aykan Safoğlus künstlerischem Schaffen. Er zeigt in seinen Arbeiten eine Welt zwischen Anwesenheit und Verschwinden und beleuchtet so die persönlichen und kollektiven Auswirkungen von Migration, Klasse und Geschlecht über kulturelle, sprachliche, geographische und zeitliche Grenzen hinweg. Die Fotografie wird zum Verhandlungsort, wo zeitlich begrenzte, gemeinschaftliche Erfahrungen ausgedehnt und bearbeitet werden, um sie sich wieder anzueignen und auf ihr Veränderungspotential hin zu befragen.

Das Nachdenken über das Verhältnis zwischen bewegten und stillen Bildern und ihrer sozialen und politischen Bedeutung zeigt sich auch in der Ausstellung selber. Sie verändert sich während der Laufzeit: Nach der Präsentation der drei filmischen Arbeiten Untitled (Gülşen und Hüseyin), 2015, zyiaret, visit, 2019, und Hundsstern steigt ab, 2020 präsentieren wir bis zum 15. Mai eine Auswahl fotografischer und weiterer Werke des Künstlers.

Depeche Mode, 2022 gibt im Ausstellungsraum den Takt an: Die Symbole für play, pause, fast forward, rewind und stop glitzern auf einem Band an der Wand. Während unsere Körperzeit linear verläuft, erlauben fotografische und filmische Reproduktionen von Körpern das Vor- und Zurück- spulen in der Zeit und somit auch eine Alternative zum Gewesenen oder eine imaginierte Zukunft.

Für die Arbeit Revolving Dreams (Athens/Istanbul, May 4-7, 2006), 2020, die im ersten Raum zu sehen ist, benutzte der Künstler Fotografien aus seinem persönlichen Archiv und fügte sie zu zusammenhängenden, meterlangen Bildstreifen, die an filigranen Fäden von der Decke hängen. So entfaltet sich auf einem alten Pass von Aykan Safoğlu – einem alten Manuskript ähnlich – ein Panorama an Bildern, die mittels Frottage und digitaler Bearbeitung entstanden sind. Die meisten Fotos stammen von einer Busreise, die ihn und eine Gruppe befreundeter Aktivisten 2006 an das 4. Europäischen Sozialforum in Athen brachte. Unter dem Motto Verändern wir Europa, verändern wir die Welt kamen Hunderttausende zusammen, um gemeinschaftliche Lösungsansätze hinsichtlich Migration, Klimawandel oder LGBTIQ-Rechte zu erarbeiten.

Im Sommer 2008, kurz bevor Aykan Safoğlu nach Deutschland zog, war er zum Kölner Christopher Street Day als queerer Aktivist und Gast der Stadt eingeladen. Während dieses Aufenthalts hat er auch seine Tante Zerrin in der Nähe von Köln besucht. Die Videoarbeit im Kabinett mit dem Titel a photocopy of the rainbow, 2021 ist die Erinnerung an diese Begegnung und sein Coming-out zu ihr. In der Arbeit verweben sich Familiengeschichte und Identitätspolitik, indem Fragen von Sichtbarkeit und Selbstbestimmung verhandelt werden. Im und um das Kabinett liegen entlang der Wände lose verteilte Buchstaben, die aus Aykan Safoğlus privaten Fotos von dieser Reise gestanzt wurden. Sie werden zur Schnittstelle zwischen Bild und Sprache und sie befragen unseren Umgang mit Sprache und Erinnerung ebenso wie mit der Notwendigkeit vorherrschenden Diskursen kritisch zu begegnen.

Im Gang liegt ein Puzzle am Boden, das nur teilweise zusammengesetzt ist (Wiedervereinigung [Reunion], 2022). Es zeigt ein Arbeitermonument, das 1973 in Istanbul zu Ehren der tausenden Arbeitsmigrant:innen, die nach Deutschland gingen, errichtet worden war und bis 2016 sukzessive zerstört wurde. Auch Monumente sind Erinnerungsorte, die errichtet und zerstört werden, und in der sich staatliche Repräsentationspolitik materialisiert. In dem Film Untitled (Gülşen and Hüseyin), 2015 verbindet der Künstler diese Geschichte mit der Lebensgeschichte seines Onkels. Während der Film im ersten Ausstellungsteil zu sehen war, bleibt das Puzzle als eine Art Echo der vorherigen Präsentation wie auch des Monuments selber zurück und reflektiert unsere Beziehung zur Geschichte und die Möglichkeit diese zu reaktivieren.

Der lange Fotodruck im zweiten Ausstellungsraum mit dem Titel Freiheit statt Angst, 11. Oktober 2008, 2020 befragt wie Revolving Dreams ein vergangenes Moment kollektiver Stärke. Der Aktionstag am 11. Oktober richtete sich gegen die staatliche Überwachung und war die erste Demonstration, an der Aykan Safoğlu nach seinem Umzug nach Deutschland teilgenommen hat. In einer Umkehrbewegung bearbeitete er zwölf Jahre später die alten Fotografien so, dass die Gesichter der Personen nicht mehr erkennbar sind, sich jedoch das kollektive Vibrieren dieses Tages in der langen, animierten Bildsequenz vermittelt.

Für die Foto-Serie Mama Greeting the Sun, 2021, zerschnitt der Künstler Fotografien seiner Mutter Nevin Safoğlu, die er in verschiedenen Jahren am Strand in Izmir, Barcelona und auf Imbros aufgenommen hatte, um sie wiederum in aufwändiger Arbeit in einen Plexiglasrahmen einzuflechten. Auch diese Fotografien entziehen sich der Zweidimensionalität, indem sie sich um den Rahmen herum wellen und den fotografischen Raum verzerren, und so auch unsere fragmentarische Lebensweise und unsere Sterblichkeit thematisieren.

Im letzten Raum wird der Film Kırık Beyaz Laleler [Off- White Tulips], 2013 gezeigt, der eine Hommage an den US-amerikanischen Autor James Baldwin ist. Von 1961 an lebte der Autor während knapp zehn Jahren in Istanbul im selbstauferlegten Exil. Aykan Safoğlu folgt den Spuren von James Baldwin mithilfe von Fotografien von Sedat Pakay. Er verwebt seine eigene Lebensgeschichte mit den Erfahrungen Baldwins, wobei Fakt und Fiktion langsam verschwimmen. Mittels der Fotografie spannt der Künstler in dieser frühen, wegweisenden filmischen Arbeit ein Netz an Referenzen und Bezügen über Generationen und verschiedene Zeiten hinweg. Gemeinsam ist, wie in allen Werken Aykan Safoğlus, der Blick auf Lebensgeschichten, die marginalisierte Perspektiven einnehmen und bewusst kämpferische Positionen beziehen, um alternative Interpretationen von Differenzen, Queer-Politik und Identität zu erzählen.